Von der Uraufführung 1978 in der Bayerischen Staatsoper, mit Dietrich Fischer Dieskau in der Titelrolle, bis heute wurde das Werk weit mehr als 20 "klanglichen Realisierungen" unterzogen. Wie unterschiedlich diese ausfallen können (und damit Wellmers These stützen), zeigt sich nun auch am Staatstheater Kassel. Dessen Generalmusikdirektor Patrik Ringborg hatte sich etwas Besonderes ausgedacht. Das Orchester sitzt nicht im Graben, sondern hinter der Szene, auf der Bühne, nur schemenhaft erkennbar. Der Klang zieht sich damit hinter das Geschehen zurück, drängt, anders als beispielsweise in den jüngsten maßgeblichen Aufführungen an der Oper Frankfurt und zuletzt an der Komischen Oper Berlin, nicht in den Raum hinein, sondern wirkt eher wie ein (allerdings durchaus dornenreiches) Gazetuch. Lear als intimes Kammerspiel, das gleichsam das Gepräge des Phantasmagorischen trägt. Das Bruitistische ist dieser Partitur genommen, es waltet eine zerbrechliche piano-Kultur, die auf differenzierte Psychologisierung der einzelnen musikalischen Erscheinungen setzt. Ringborg entlockt dem Staatsorchester Kassel dabei Tonkonstellationen von immenser Intensität. Bis ins Fahle hinein dünnt er zuweilen den Klang aus, und nicht selten ertappt man sich dabei, wie einem ein Schauer über den Rücken fahrt. Und dieser Schauer, entwickelt er nicht seine stärkste Energie genau dann, wenn er leise und heimlich naht? Kurzum: eine beeindruckend insistierende musikalische Umsetzung, die vom Feingespür des jungen schwedischen Dirigenten für die lyrische Seite des Werks kündet.
Natürlich profitieren auch die Sänger nachhaltig von dieser Musizierhaltung. Das Hysterische der beiden herrschsüchtigen Lear-Töchter Goneril (Lona Culmer-Schellbach) und Regan (Ruth Maria Nicolay) wird so nicht ausgeblendet, doch umgefärbt. Diese Hysterie kommt auf samtenen Sohlen daher. Die Vokalisen strömen freier, kleinste Nuancen werden hörbar. In diesem Kontext zeigt sich auch das Zersplitterte der Titelfigur aufs Deutlichste. Lear, wie ihn Espen Fegran mit hoher klanglicher Kultiviertheit singt, ist ein ebenso seniler, vom Tode gezeichneter wie ein milder Mann, der seinen Kampf um die Realität längst aufgegeben hat, ja im Grunde von Beginn an nach innen horcht und seine Stimme nur noch in liebender Zärtlichkeit der vor ihm verschwindenden Welt schenkt. Er ist mit diesem Gefühl nicht alleine. Auch Cordelia, die gute, von ihm fälschlich verstoßene Tochter, benötigt bei Caroline Stein kein outriertes vokales Gebaren, und ihr gleich agieren Edgar (mit schmalem, aber elastischen Countertenor: Michael Hofmeister), der Narr (gut ausbalanciert: Dieter Hönig) und der Graf von Gloster (mit flüsternder Eindringlichkeit: Krzystof Borysiewicz) - als vor dem Lärm des Geschehens Flüchtende, sich beinahe still abwendende Wesen. So fein gezeichnet das musikalische Tableau, so schematisch (und auch zu ausgedacht) die Inszenierung von Paul Esterhazy im Bühnenbild von Mathis Neidhardt. ... Vom (Allzu)Menschlich-Abgründigen des Lear erzählt die Musik.
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