Reimann

Lear am Staatstheater Kassel, September 2010:

Die leise Stärke

Von der Uraufführung 1978 in der Bayerischen Staatsoper, mit Dietrich Fischer Dieskau in der Titelrolle, bis heute wurde das Werk weit mehr als 20 "klanglichen Realisierungen" unterzogen. Wie unterschiedlich diese ausfallen können (und damit Wellmers These stützen), zeigt sich nun auch am Staatstheater Kassel. Dessen Generalmusikdirektor Patrik Ringborg hatte sich etwas Besonderes ausgedacht. Das Orchester sitzt nicht im Graben, sondern hinter der Szene, auf der Bühne, nur schemenhaft erkennbar. Der Klang zieht sich damit hinter das Geschehen zurück, drängt, anders als beispielsweise in den jüngsten maßgeblichen Aufführungen an der Oper Frankfurt und zuletzt an der Komischen Oper Berlin, nicht in den Raum hinein, sondern wirkt eher wie ein (allerdings durchaus dornenreiches) Gazetuch. Lear als intimes Kammerspiel, das gleichsam das Gepräge des Phantasmagorischen trägt. Das Bruitistische ist dieser Partitur genommen, es waltet eine zerbrechliche piano-Kultur, die auf differenzierte Psychologisierung der einzelnen musikalischen Erscheinungen setzt. Ringborg entlockt dem Staatsorchester Kassel dabei Tonkonstellationen von immenser Intensität. Bis ins Fahle hinein dünnt er zuweilen den Klang aus, und nicht selten ertappt man sich dabei, wie einem ein Schauer über den Rücken fahrt. Und dieser Schauer, entwickelt er nicht seine stärkste Energie genau dann, wenn er leise und heimlich naht? Kurzum: eine beeindruckend insistierende musikalische Umsetzung, die vom Feingespür des jungen schwedischen Dirigenten für die lyrische Seite des Werks kündet.

Natürlich profitieren auch die Sänger nachhaltig von dieser Musizierhaltung. Das Hysterische der beiden herrschsüchtigen Lear-Töchter Goneril (Lona Culmer-Schellbach) und Regan (Ruth Maria Nicolay) wird so nicht ausgeblendet, doch umgefärbt. Diese Hysterie kommt auf samtenen Sohlen daher. Die Vokalisen strömen freier, kleinste Nuancen werden hörbar. In diesem Kontext zeigt sich auch das Zersplitterte der Titelfigur aufs Deutlichste. Lear, wie ihn Espen Fegran mit hoher klanglicher Kultiviertheit singt, ist ein ebenso seniler, vom Tode gezeichneter wie ein milder Mann, der seinen Kampf um die Realität längst aufgegeben hat, ja im Grunde von Beginn an nach innen horcht und seine Stimme nur noch in liebender Zärtlichkeit der vor ihm verschwindenden Welt schenkt. Er ist mit diesem Gefühl nicht alleine. Auch Cordelia, die gute, von ihm fälschlich verstoßene Tochter, benötigt bei Caroline Stein kein outriertes vokales Gebaren, und ihr gleich agieren Edgar (mit schmalem, aber elastischen Countertenor: Michael Hofmeister), der Narr (gut ausbalanciert: Dieter Hönig) und der Graf von Gloster (mit flüsternder Eindringlichkeit: Krzystof Borysiewicz) - als vor dem Lärm des Geschehens Flüchtende, sich beinahe still abwendende Wesen. So fein gezeichnet das musikalische Tableau, so schematisch (und auch zu ausgedacht) die Inszenierung von Paul Esterhazy im Bühnenbild von Mathis Neidhardt. ... Vom (Allzu)Menschlich-Abgründigen des Lear erzählt die Musik.

In der Beurteilung von Patrik Ringborg und dem Orchester kann man sich eigentlich nur dem Lob anschließen, dass Aribert Reimann, der auch im Publikum war am Samstag, hinterher ausgesprochen hat und es klang nicht nach einem Lob, dass er standardmäßig aufsagt. Er schein wirklich begeistert von Regie und Musik. Er sprach von einem "unwahrscheinlich tollen Orchester" und hat Ringborg als einen sehr genauen Dirigenten hervorgehoben. Damit hat er absolut recht, und es ist vor allem wichtig, denn sonst werden diese Klangflächen, diese clusterigen Klänge, auch leicht zu einem großen Brei.
Das Staatsorchester Kassel spielt hinter der von Mathis Neidhardt raffiniert gestalteten Bühne, es realisiert unter Generalmusikdirektor Patrik Ringborg die heftigen Klangballungen und dunklen Schönheiten der Partitur auf imponierende Weise. Aribert Reimann, der zur Premiere angereist war, warf den Musikern eine Kusshand zu.
... von der Hinterbühne her mischt sich das Orchester unter Leitung von Patrik Ringborg ins Geriatrie-Geschehen ein. Es ist wegen einer stark getönten Trennscheibe kaum sichtbar, akustisch allerdings höchst präsent. Die Schichtungen der Partitur werden transparent, die Differenzierung des Simultanen lässt feine Nuancen wahrnehmen. Auch die vokalsolistischen Leistungen in Kassel erscheinen - selbst im internationalen Vergleich - bemerkenswert.
Auch musikalisch stellt er höchste Ansprüche an die Rezipienten - an die Interpreten ohnehin. Patrik Ringborg leitet mit größter Souveränität den Riesenapparat des Staatsorchesters, das auf dem hinteren Teil der Bühne sitzt. Da gibt es gewaltige Klangexplosionen - und das Gegenteil davon. Subtile Klangwirkungen von der einsam ihre Kreise ziehenden Bassflöte über das Streichquartett (die Begleitung des Narren), flirrenden Cluster der Streicher bis zum knalligen, von Schlaginstrumenten und Blechbläsern beherrschtem Tutti.
Totgeweihter Lear auf der Intensivstation Allen Unkenrufen zum Trotz hält sich die schon so oft totgesagte Kunstform Oper beständig - und das Repertoire der Opernhäuser vermehrt sich auch stetig um zeitgenössische Werke. Zwei Werke aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts können dafür exemplarisch stehen: Bernd Alois Zimmermanns "Soldaten" und Aribert Reimanns Lear. In den späten 1960er Jahren machte das Kasseler Staatstheater mit den "Soldaten" Furore - nun eröffnete das Haus mit Reimanns Lear, einer der erfolgreichsten Opern der vergangenen 30 Jahre, die neue Spielzeit. Das Orchester ist nicht im Graben, sondern auf dem hinteren Teil der Bühne hinter einer halbtransparenten Wand platziert. ... Mit dieser aufwendigen Veränderung hat das Produktionsteam die klangliche Balance zwischen Solisten und dem sehr stark besetzten Orchester hörbar verbessert: Stellenweise setzt Reimann die Instrumentalisten derart massiv ein, dass sich ein Solist kaum dagegen durchsetzen könnte. So konnte dem Dirigenten Patrik Ringborg das beinahe Unmögliche gelingen, nämlich Reimanns Partitur bei aller Komplexität und Dichte doch immer wieder durchsichtig zu präsentieren. Die Intensität des musikalischen Ausdrucks war so bisweilen geradezu schmerzhaft gesteigert. Reimann ordnet dabei den Personen des Dramas eigene Farben zu - vom sanften Klang eines Streichquartetts bis hin zu vielfach oszillierenden Klangflächen und brutalen Schlagzeugattacken. Eine faszinierende Musik, die dem Text verpflichtet ist, seinen Gehalt auf stets nachvollziehbare Weise suggestiv ausdeutet. Das gesamte Ensemble stellte sich dieser Aufgabe mit großem Einsatz auf sehr hohem musikalischem Niveau. .... Wer sich dieser Oper stellt, darf keine musikalischen Streicheleinheiten erwarten, purer Wohlklang wäre bei einem Stoff wie Lear wohl auch kaum angebracht. Das verursachte bei der Premiere etliche Lücken im Zuschauerraum nach der Pause. Doch die geblieben waren, zeigten sich nachhaltig begeistert - ebenso der 74-jährige Komponist, der zur Premiere aus Berlin angereist war und den Musikern eine Kusshand zuwarf.
Der Komponist war eigens angereist, um seinem in aller Welt gerühmten Werk beizuwohnen, das hier als konsequent klinisch gehaltenes Kammerspiel von Paul Esterhazy inszeniert wurde. Reimann bedankte sich aber vor allem für die musikalische Umsetzung beim Staatsorchester Kassel unter der souveränen Leitung von Patrik Ringborg. Dieser gewaltige, hinter einem Schleiervorhang berauschend, bestürzend und gleichermaßen akkurat wirkende Apparat nämlich war der eigentliche Garant des musikalisch qualitativ hochwertigen Abends, so achtbar sich auch das Sängerensemble im Vordergrund geschlagen hat.
Die von der Partitur intendierte "Härte und Klarheit" prozessiert das kaum sichtbar auf der Hinterbühne postierte Orchester unter Patrik Ringborg fabelhaft heraus. ... Die vokalsolistischen Leistungen sind sehr bemerkenswert.
Patrik Ringborg entfaltet ... die bei aller konstruktiver Raffinesse sehr direkt wirksame Musik in ihrer Klangreichtum zwischen poetischer Versenkung und Gewaltsamkeit.
"Ein unwahrscheinlich tolles Orchester", hieß es auf der Premierenfeier am Staatstheater Kassel. Nicht ein enthusiasmierter Musikjournalist war der Urheber der anerkennenden Bemerkung, sie kam vielmehr von jemandem, der die Partitur bis in die letzte Note kennt, weil er sie selbst geschrieben hat. Der Komponist Aribert Reimann war im September 2010 nach Nordhessen gereist, um dort beim Kasseler Spielzeitauftakt seiner Oper Lear beizuwohnen. Nach dem Ende des finsteren Dramas warf er den Musikern eine Kusshand zu und hatte dann noch auf der Premierenfeier ein großes Lob für das Staatsorchester Kassel und Generalmusikdirektor Patrik Ringborg übrig. Reimanns Shakespeare-Oper war ein bewegendes Ereignis, wobei Musik und Szene ein eng verzahntes Ganzes bildeten. Das Orchester musizierte hinter der von Mathis Neidhardt raffiniert gestalteten Bühne, was viel zum Charakter dieser Produktion beitrug. Die Sänger waren ausgezeichnet zu verstehen, die instrumentalen Klangballungen kamen heftig, doch nicht einseitig überrumpelnd. Es blieb Raum für das Filigrane und für die lyrische Seite des Werkes bis hin zum sensibel gespielten Bassflötensolo. Ein solches Vorgehen, das den Orchesterpart im Dienst der Gesamtwirkung entwickelt und lieber mit dem feinen als mit dem breiten Pinsel arbeitet, ist durchaus kennzeichnend für Kassels schwedischen Generalmusikdirektor Patrik Ringborg. Für die dortige Opernarbeit spricht auch, dass die so anspruchsvolle Titelpartie mit einem Ensemblemitglied besetzt war, und zwar mit dem norwegischen Bariton Espen Fegran, der ein expressives Porträt des alten Königs gab.


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