Fundstück aus der Schatzkammer Am Kasseler Staatstheater wurde Louis Spohrs Oper
Jessonda in konzertanter Form wiederbelebt Verschwindet eine beliebte Oper im Lauf der Jahrzehnte von den Spielplänen, dann liegt der Verdacht nahe, sie sei zu Recht vergessen worden. Dahinter steht die Vorstellung von der Musikgeschichte als einem großen Sieb, in dem auf Dauer die künstlerisch dicken Brocken schon irgendwie hängen bleiben - der Rest wird ausgesiebt und weggespült. Vor diesem Hintergrund war es kein ganz risikofreies Unterfangen, Louis Spohrs (1784-1859) einstige Erfolgsoper
Jessonda im Jubiläumsjahr des Komponisten wieder aufzuführen. Zwar hat das Staatstheater Kassel allen Grund, eine Oper, die so eng mit der Geschichte der Stadt verknüpft ist, zu zeigen. Aber würde daraus mehr werden als eine stadthistorische Reminiszenz?
Es wurde viel mehr. Die Zuhörer im fast ausverkauften Opernhaus erlebten unter der Leitung von Generalmusikdirektor Patrik Ringborg eine berührende Aufführung, eine Begegnung mit Spohrs Musik der intensiven Art, die ihre Resonanz im lang anhaltenden Schlussbeifall fand. Tatsächlich zeichnet Spohr in
Jessonda seine Figuren mit feinen Charakterporträts, wie in der konzertanten Aufführung schön zu verfolgen war. Schon das anfängliche Duett zwischen dem Priester Dandau und dem jungen Braminen Nadori erweist sich als faszinierendes Spiel zweier Charaktere - des rigiden Traditionalisten und des in seinem Selbstbewusstsein erwachenden jungen Mannes. Spohr ist weniger ein Komponist des Eindeutigen als ein Meister der gemischten Gefühle, der farblichen Schattierungen, der harmonischen Stimmungswechsel. Weder Tristan noch Jessonda und die anderen werden zu Helden vergröbert - besonders anrührend die feine musikalische Psychologie der sich ergebenden, gleichzeitig aber liebenden und lebenswilligen Jessonda, die in ihrer leidenschaftlichen Schlussarie kulminiert. Als Glück erwies sich, dass für diese erste Kasseler
Jessonda seit 50 Jahren eine exzellente Sängerbesetzung aufgeboten wurde. ... Bemerkenswert die Klangkultur und Strahlkraft des Opernchors und der Kantorei Kassel
Meister der Differenzierung
Patrik Ringborg erwies sich einmal mehr als Meister der Differenzierung und des belebten Musizierens, aufbauend auf einem transparenten, farbintensiven Orchesterklang. Ist Jessonda also eine Oper ohne Einschränkungen? Natürlich nicht. Es ließe sich Einiges sagen über uns heute fremd gewordene heldische Anklänge, die musikalisch flach wirken, auch zur überladenen Sprache des Librettos von Eduard Gehe - ein Zeitübel, das viele Opern und Oratorien aus dem frühen 19. Jahrhundert belastet. Doch darüber steht Spohrs von hohem Ethos getragene eindringliche Musiksprache. Fazit: Die Musikgeschichte ist eben auch eine Schatzkammer, in der zu kramen sich lohnt.